Eines Abends kamen vier Musikanten in ein verfallenes Schloss. Der Mond beschien die geborstenen Mauern, und die Bäume reckten ihre Aste zu den Fensterhöhlen hinein.
„Freunde“, schlug ein Musikant den anderen vor. „Wollen wir den letzten Schlossbewohnern nicht ein Liedchen vorspielen?“
Die anderen waren einverstanden, und sie spielten eine lustige Weise, die seltsam in dem alten Gemäuer widerhallte. Als sie verklungen war, kam ein winziges, dürres Männlein aus einer Mauerspalte, dankte ihnen für ihr Spiel und schenkte jedem ein Nusszweiglein mit der Bitte, es den Kindern mitzubringen. Die Musikanten nahmen die Zweige, warfen sie aber unterwegs verächtlich fort und spotteten sogar über die wertlose Gabe. Nur einer steckte sein Zweiglein in die Tasche und schenkte es nach der Heimkehr seinen Kindern. Weiterlesen
Anne Etchegoyen, Le Choeur Aizkoa – Hegoak
Der Krug der alten Frau
Einst lebte in einem Schloss ein böser Graf. Tagsüber tötete er die Hirsche in den Wäldern. Des Nachts schlief er erst ein, wenn er sich zuvor die Gefangenen in seinem Kerker angeschaut hatte. Ihre Seufzer und ihre Gebete machten ihm Vergnügen. Traf er auf seinen Ausritten auf ein Tier, so schlug er es. Stieß er auf einen Wanderer, so misshandelte er ihn. Wenn er sich von weitem einem Dorfe näherte, so flohen alle Menschen in ihre Häuser. Mütter brachten ihre kleinen Kinder eilends vor ihm in Sicherheit.
An einem trüben und nebligen Herbsttag ritt er allein zwischen den zur Hälfte entlaubten Bäumen hindurch, die den Weg säumten, auf seinem hohen, schwarzen Ross. Er kam an eine Quelle. Dort sah er, wie eine alte Frau vergeblich versuchte, einen gefüllten Krug mit sich zu schleppen. Sie war sehr arm, denn sie war in Lumpen gehüllt, und sie war sehr schwach, denn ihre mageren Hände hielten zitternd den Henkel umklammert. Sie sah mitleiderregend aus. Auf ihrem verwelkten Gesicht kreuzten sich die Falten, Spuren von Alter, Kummer und Elend. Sie richtete ihre fast erblindeten Augen zu ihm auf und flehte ihn mit schwacher Stimme an: »Habt Erbarmen, Herr. Helft mir!«
Er aber lachte nur höhnisch, und Weiterlesen
Der Bär und das böse Wort
In einem Wald lebten in einer Höhle kleine Bären. Einmal war ein Mann in den Wald gekommen, um Holz zu sammeln, da war eines der Bärenkinder aus der Höhle gekrochen, blieb in einer Hecke auf einem Hügel hängen und konnte nicht mehr loskommen. Der Mann sah das, bekam Mitleid mit dem Bären, ging zu ihm und befreite ihn aus dem Strauch. Er trug ihn in die Höhle zurück und begann von neuem, Holz zu sammeln.
Plötzlich kam die Bärenmutter heran, die alles gesehen hatte, und sagte zu dem Mann:
»Du hast mir Gutes erwiesen; willst du, dass wir Freunde sind?«
Der Mann hatte Angst, aber was sollte er machen? Er fasste sich ein Herz, und sie wurden nach und nach gute Freunde. Als er fortging, versprachen sie sich, dass er oft in den Wald kommen und die Bären an dieser Stelle suchen würde.
Einmal, als sie sich voneinander trennten, umarmten sie sich, und der Mann sagte zu dem Bären: »Ach, Freund, es ist alles schön und gut an dir, aber eines taugt nicht: Du stinkst aus dem Mund!«
Der Mann hatte nicht überlegt, was er sagte, und bemerkte auch nicht, dass das dem Bären weh tat. Diese Worte trafen den Bären tief ins Herz, er erwiderte aber nichts, sondern er hielt ihm nur seinen Kopf hin und bat:
»Schlag mich, Freund, so fest du kannst, mit dem Beil auf den Kopf, kannst du es aber nicht, so fresse ich dich.«
Der Mann war entsetzt und Weiterlesen
Das Kätzchen und die Stricknadeln
Es war einmal eine arme Frau, die ging in den Wald, um Holz zu lesen. Als sie mit ihrer Bürde auf dem Rückwege war, sah sie ein krankes Kätzchen hinter dem Zaune liegen, das kläglich schrie. Die arme Frau nahm es mitleidig in ihre Schürze und trug es nach Hause. Auf dem Wege kamen ihre beiden Kinder ihr entgegen, und als sie sahen, dass die Mutter etwas trug, fragten sie: „Mutter, was trägst du?“ und wollten gleich das Kätzchen haben. Aber die mitleidige Frau gab es ihnen nicht, aus Sorge, sie möchten es quälen, sondern sie legte das Kätzchen zu Hause auf alte, weiche Kleider und gab ihm Milch zu trinken. Als das Kätzchen sich gelabt hatte und wieder gesund war, war es mit einemmal fort und verschwunden.
Nach einiger Zeit ging die arme Frau wieder in den Wald, und als sie mit ihrer Bürde Holz wieder an die Stelle kam, wo das kranke Kätzchen gelegen hatte, da stand eine ganz vornehme Dame dort. Die winkte die arme Frau zu sich und warf ihr fünf Stricknadeln in die Schürze. Die Frau wusste nicht recht, was sie denken sollte; es dünkte diese absonderliche Gabe sie gar zu gering. Doch nahm sie die fünf Stricknadeln mit sich und legte sie des Abends auf den Tisch. Aber als die Frau am andern Morgen ihr Lager verließ, da lag ein paar neuer, fertig gestrickter Strümpfe auf dem Tische. Das wunderte die arme Frau über alle Maßen. Am nächsten Abend legte sie die Nadeln wieder auf den Tisch, und am andern Morgen darauf lagen neue Strümpfe da. Jetzt merkte sie, dass ihr die fleißigen Nadeln beschert waren, weil sie Mitleid mit dem kranken Kätzchen gehabt hatte. Sie ließ die Nadeln nun jede Nacht stricken, bis sie und die Kinder genug Strümpfe hatten. Dann verkaufte sie auch Strümpfe und hatte genug bis an ihr seliges Ende.
Ludwig Bechstein
Kieselchen und Beerchen
Kieselchen war ein sehr guter Junge. Er hütete gern das Vieh, er liebte die Tiere, die Vögel und die Pflanzen. Während des Hütens schnitzte er aus Holz allerlei Figuren, Löffel oder Pfeifen, oder er sammelte Beeren und Pilze für seine Mutter.
An einem schönen Sommertag fand Kieselchen am Wegrand eine große reife Erdbeere. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, nahm diese Erdbeere in die Hand, betrachtete sie und sprach zu sich selbst: „Ach, wenn sich doch die Beere jetzt in ein hübsches Mädchen verwandelte! Dann würden wir beide Vieh hüten und singen, Beeren sammeln und spielen.“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als die Erdbeere plötzlich zu Boden fiel und ein schönes Mädchen in einem roten Kleidchen mit grünen Schleifen im blonden Haar vor ihm stand. Kieselchen blieb vor Staunen der Mund offen. Das schöne Mädchen aber verneigte sich vor ihm, lächelte allerliebst und sprach: „Hab keine Angst vor mir, Kieselchen. Ich werde dir beim Hüten helfen, dann hast du keine Langeweile mehr.“
Kieselchen war froh und teilte sogleich das Frühstücksbrot, das seine Mutter ihm mitgegeben hatte, mit dem Mädchen, dem er den Namen Beerchen gab. Beerchen war ein lustiges Mädchen. Den ganzen Tag sang und spielte es mit Kieselchen und erzählte ihm viele schöne Geschichten aus dem Wald. Inzwischen war es Abend geworden, und Kieselchen sprach zu dem Mädchen: „Beerchen, die Sonne bereitet sich zum Schlafen vor, es wird Zeit, das Vieh heimzutreiben. Das werden wir jetzt gemeinsam tun. Meine Mutter ist gut, sie wird dich wie die eigene Tochter aufnehmen.“
„Nein, Kieselchen“, erwiderte Beerchen. „Du musst allein gehen. Ich bleibe hier. Ich krieche unter einen Baumstumpf und verbringe dort die Nacht. Wenn du morgen früh wieder kommst und rufst: „Beerchen, komm heraus!“, werde ich unter dem Baumstumpf hervorkriechen.“ Kieselchen trieb das Vieh heim, während Beerchen im Wald zurückblieb.
Als er am nächsten Morgen das Vieh wieder hinaustrieb und zu dem Baumstumpf kam, rief er: „Beerchen, komm heraus!“ Sogleich kroch Beerchen hervor und beide hüteten das Vieh bis zum Abend.
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