Der Prahlhans

Der Prahlhans

In einer Siedlung, dicht an der Küste des Eismeeres, lebten einst der Sohn eines wohlhabenden Fellhändlers und der Sohn eines armen Jägers. Nichts ärgerte den Armen mehr, als dass der Sohn des Reichen bei jeder Gelegenheit prahlte, alles ginge ihm gut aus, weil er unter den jungen Leuten der Schlaueste sei. Die meisten wagten nicht, mit ihm darüber zu streiten, denn Kome besaß mehr als sie alle zusammen: große und kleine Schlitten, prachtvolle Hunde und Rentiere, bestickte Pelzwesten und Pelzstiefel.
Uakat, der Arme, überlegte lange und beschloss, dem Angeber Kome eine Lehre zu erteilen.
Eines Tages fuhr Kome mit dem Schlitten durch die Siedlung – nur so zum Spaß. Man begrüßte ihn und fragte wie immer: „Nun, was gibt es Neues?“
„Vielleicht ist es neu für euch, was ich gerade gehört habe“, antwortete Kome und wartete, bis alle ihn gespannt ansahen. „Man sagt sogar in der Nachbarsiedlung, dass es weit und breit keinen Schlaueren gäbe als mich. Und so ein Schamane1 musste es ja wissen.“
Die jungen Burschen schwiegen betreten, Uakat aber trat vor und antwortete: „Mag sein, dass du anderswo der Schlaueste bist, wir haben es jedenfalls noch nicht bemerkt. Aber lass uns versuchen, wer von uns beiden den anderen am besten überlisten kann.“
„Ja, ja!“ riefen die Burschen. „So soll es sein!“
Kome ärgerte sich. Was sollte er machen? Er überlegte, Wie er sich aus der Sache herauswinden könnte, doch Uakat ließ ihm dazu keine Zeit.
„Fahr jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder hierher, dann werden wir weiter sehen. Bis dahin hast du Zeit genug zum Nachdenken. Und ich auch.“
Kome wendete seinen Schlitten und begab sich sogleich zum Schamanen, um sich mit ihm zu beraten. Am nächsten Morgen fuhr er, seiner Sache ganz sicher, mit zwei Rentieren und dem großen Schlitten zu der verabredeten Stelle. Sein Weg führte ihn an einem langgestreckten Hügel entlang. Auf der schnellen Fahrt bemerkte er plötzlich einen gestickten Fellschuh auf dem Wege. Doch Uakat, der sich wenige Schritte weiter hinter einigen Felsblöcken versteckt hatte, sah er nicht. Kaum war Komes Schlitten vorbei, sprang Uakat hervor, nahm den Schuh, kletterte eilig über den Hügel und legte ihn auf der anderen Seite der Anhöhe nieder. Auch dort verbarg er sich, um zu beobachten, was Kome tun würde. Der kam auch bald gefahren und hielt die Rentiere an.
„Nein, so etwas! Schon wieder ein Schuh! Wie schade, dass ich den anderen nicht aufgehoben habe. Es gäbe ein schönes Paar.“ Dann überlegte er. Ich will doch zurückgehen und ihn holen.
So band er die Rentiere am Pfosten eines Geheges fest, denn zum Wenden war der Pfad zu schmal, und lief zu Fuß quer über den Hügel, um den Weg abzukürzen.
Kaum war Kome verschwunden, als Uakat aus seinem Versteck heraussprang, die Rentiere losband und eilig mit ihnen davonfuhr.
Kome suchte die Stelle, wo er meinte, den Schuh gesehen zu haben, doch der war nirgends zu erblicken. Ärgerlich machte er kehrt. Wie groß war sein Schreck, als er feststellte, dass Schlitten und Rentiere verschwunden waren. Jetzt wusste er, wer ihn überlistet hatte.
„0 dieser Schlauberger! Wie dumm war ich, mich von ihm so anführen zu lassen.“
Er ging der Schlittenspur nach und gelangte zur Jaranga2 des armen Uakat. Dort standen schon viele junge Leute und lachten schadenfroh, als sie Kome zu Fuß herankommen sahen.
Uakat ging ihm entgegen. „Nun, Kome“, rief er, „glaubst du immer noch, der Allerschlaueste zu sein?
Kome antwortete: „Ich gebe zu, es ist dir gelungen, mich heute gehörig hereinzulegen. Mit einem einzigen Schuh hast du mich um zwei Rentiere gebracht. Aber wenn wir uns noch einmal miteinander messen, werde ich sie dir wieder abnehmen“, und er zürnte dem Schamanen, der ihm keinen brauchbaren Rat gegeben hatte.
Die jungen Leute lachten jetzt laut und unverhohlen und nannten ihn von Stund an Kome Prahlhans. Und dabei blieb es.

Märchen der Tschuktschen

‚ = Medizinmann, Zauberpriester

2 = Wohnzelt der Tschuktschen