Das beste Meisterstück

Es lebte einmal ein Zar, der hielt sich viele Bediente und Handwerker.
Eines Tages entbrannte vor den Gemä­chern des Zaren ein Streit zwischen dem Goldschmied und dem Tischler, wer von beiden sein Handwerk besser ausübe. Der Zar, der das hörte, entschied: „Ich gebe euch drei Wochen Zeit. Ihr sollt beide euer Meisterstück machen, der eine aus Gold, der andere aus Holz. Dann wollen wir sehen, wer von euch sein Handwerk besser versteht.“
Als die drei Wochen um waren, kamen beide ins Schloß, und jeder trug ein Bündel mit sich.
Als erster trat der Goldschmied vor den Zaren, bat ihn, ein großes Faß Wasser her­beischaffen zu lassen, schnürte darauf sein Bündel auf, holte eine goldene Ente hervor und setzte sie aufs Wasser. Die Ente schwamm hin und her, als wäre sie leben­dig, wackelte mit dem Kopf und schnat­terte in einem fort.
Der Zar riss Mund und Augen auf, und auch der Hof wunderte sich über die Maßen. „Ist das ein Meisterstück!“
Darauf wandte sich der Zar an den Tisch­ler, er solle nun seine Kunst unter Be­weis stellen. Der Tischler verneigte sich und sprach: „Väterchen Zar, ich bitte dich, lass ein Fenster öffnen, damit ich dir be­weise, was ich kann!“
Das Fenster ward geöffnet. Der Tischler schnürte sein Bündel auf und holte einen hölzernen Adler hervor. „Die goldene Ente schwimmt zwar, mein Adler aber schwingt sich sofort in die Lüfte!“ Mit diesen Wor­ten setzte er sich rittlings auf den Vogel und drehte an einem Schräubchen; der Adler schlug mit den Flügeln, flog mit dem Meister auf dem Rücken zum Fenster hinaus und umkreiste mehrmals die Kup­peln des Zarenpalastes. Danach kehrte der Vogel ins Gemach zurück. Während der Tischler berichtete, wie er das Meister­stück vollbracht habe, sprang der Sohn des Zaren dem Adler auf den Rücken, drehte am Schräubchen und flog gleich­falls zum Fenster hinaus.
Wutentbrannt ließ der Zar den Tischler in den Kerker werfen und gefangenhalten, bis der Sohn zurück wäre. Der aber flog immer weiter und weiter und gelangte ge­gen Abend in eine fremde Stadt. Dort sah er am Wegrand ein Häuschen stehen und klopfte an die Tür. Ein altes Mütterchen öffnete ihm, hieß ihn eintreten und setzte dem späten Gast eine Mahlzeit vor. Der Zarensohn fragte sie aus, wer hierzulande lebe und was für Sehenswürdigkeiten es hier gebe.
„Ein Wunder gibt es hierzulande, mein Sohn“, erzählte die Alte. „Inmitten der Stadt steht das Schloß des Zaren, daneben aber ragt ein Turm empor, und darin sitzt hinter Schloß und Riegel die Tochter des Zaren. Der Zar befürchtet nämlich, sie könnte heiraten, und da müsste er von ihr Abschied nehmen. Das Mädchen aber sitzt im Turm und wartet auf ihren Befreier.“
Am nächsten Abend, sobald es zu däm­mern anhob, bestieg der Zarensohn den hölzernen Adler, schwang sich hoch in die Lüfte und flog durch das offene Fenster zur Zarentochter ins Gemach. Die aber war so schön, daß die Sonne selbst, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Der Zarensohn sah das Mädchen freundlich an und fragte: „Willst du mit mir auf mein Schloß gehen und meine liebe Frau sein?“
„Ach ja“, sagte das Mädchen und ließ sich von ihm auf den hölzernen Adler heben, und der trug sie beide in Windes­eile in die Heimat des Zarensohnes zurück.
Unterdessen vergoss der Zar bittere Tränen um den verlorenen Sohn. Zufällig hob er den Kopf und sah den hölzernen Adler die Kuppeln des Schlosses umkrei­sen, auf seinem Rücken aber den Sohn und ein schönes Mädchen sitzen.
Der Adler flog im Schloßhof nieder, der Zarensohn führte seine Braut ins Schloß und erzählte dem Vater alles.
Nun entließ der Zar den Tischler aus dem Gefängnis. Die Vermählung des Za­rensohnes mit der schönen Zarentochter ward in aller Pracht gefeiert, und beide lebten vergnügt bis an ihr Ende.

Russisches Märchen