Einst lebte in einem Schloss ein böser Graf. Tagsüber tötete er die Hirsche in den Wäldern. Des Nachts schlief er erst ein, wenn er sich zuvor die Gefangenen in seinem Kerker angeschaut hatte. Ihre Seufzer und ihre Gebete machten ihm Vergnügen. Traf er auf seinen Ausritten auf ein Tier, so schlug er es. Stieß er auf einen Wanderer, so misshandelte er ihn. Wenn er sich von weitem einem Dorfe näherte, so flohen alle Menschen in ihre Häuser. Mütter brachten ihre kleinen Kinder eilends vor ihm in Sicherheit.
An einem trüben und nebligen Herbsttag ritt er allein zwischen den zur Hälfte entlaubten Bäumen hindurch, die den Weg säumten, auf seinem hohen, schwarzen Ross. Er kam an eine Quelle. Dort sah er, wie eine alte Frau vergeblich versuchte, einen gefüllten Krug mit sich zu schleppen. Sie war sehr arm, denn sie war in Lumpen gehüllt, und sie war sehr schwach, denn ihre mageren Hände hielten zitternd den Henkel umklammert. Sie sah mitleiderregend aus. Auf ihrem verwelkten Gesicht kreuzten sich die Falten, Spuren von Alter, Kummer und Elend. Sie richtete ihre fast erblindeten Augen zu ihm auf und flehte ihn mit schwacher Stimme an: »Habt Erbarmen, Herr. Helft mir!«
Er aber lachte nur höhnisch, und weil sie sich auf seinem Grund und Boden aufhielt, gab er ihr mit dem Stiefel einen solchen Stoß vor die Brust, dass die Ärmste mit einem Schrei in die Scherben des Kruges stürzte und das Wasser sich mit ihrem Blut vermischt über den Boden ergoss. Aber o Wunder. Plötzlich hing der Krug am Hals des Bösewichts, und eine donnernde Stimme dröhnte ihm ins Ohr: »Unseliger, erst dann wirst du zur Ruhe kommen, wenn dieser Krug voll sein wird!«
Da hob ein schreckliches Pfeifen und Tosen an. Die Bäume krümmten sich, und die Raben krächzten schaurig. Das Pferd wieherte rasend und erhob sich mit der Mähne im Wind. Es galoppierte dem Horizont entgegen. Und das war ein Ritt ohne Ziel und Ende, ohne Rast und Ruh. Er konnte tun und machen, was er wollte: Kein Regen und kein Wolkenbruch, kein Bach und kein Fluss, kein Teich und kein See und auch kein Meer konnten den Krug füllen. Er blieb immer trocken und leer. Da ergab sich der unglückselige Reiter in sein Schicksal. Wochen, Monate und Jahre verstrichen auf diese Weise.
An den Augen des Reiters zogen Ebenen, Berge und Täler vorbei. Die Sonne brannte ihm aufs Haupt, der Regen prasselte ihm ins Gesicht, Schnee und Wind peitschten ihn. Vor ihm breitete sich die weite Welt aus.
Er sah, wie sich das arme Volk abmühte, sah die Leute die Ackerfurchen bearbeiten, das Leinen weben, das Holz hacken, das Ruder führen, die Kelle heben und den Hammer schwingen. Er sah die Adeligen mit glänzenden stählernen Rüstungen und bunten Bannern spazierenreiten. Er sah Hochzeiten, wo gesungen, und Begräbnisse, wo geweint wurde. Dicht an Kirchen kam er vorbei, aus denen Musik ertönte, an summenden Städten gleich Bienenkörben, an friedlichen Dörfern, wo der Rauch aus den Strohhütten stieg, an Bäumen, die im Frühling blühten und im Herbst wie im Gold dastanden. An der Steilküste ritt er entlang, von wo aus er Schiffe auf dem herrlichen Meer sah, und am Fuße hoher Berge, die mit einem Diadem aus Gletschereis gekrönt waren. Und langsam, nach und nach rührte die Vielfalt und Schönheit dieser Welt auch an die Seele dieses Rohlings.
Aber er erkannte auch, dass es die Bosheit des Menschen war, die das Werk des Schöpfers zerstörte. Er sah, wie Kriegsheere die Ernten vernichteten und das klare Wasser der Flüsse rot färbten mit Blut. Er sah herrliche Kirchen zusammenstürzen, sah die Verwüstung blühender Städte mit fleißigen Bewohnern, sah freundliche Ortschaften brennen. Er sah, wie der Starke den Schwachen niederschlug, sah, wie die Schwachen hilflos ihre tränenerfüllten Augen zum Himmel hoben. Dicht vor ihm schrien alte Männer um Hilfe, Frauen streckten verzweifelt ihre Arme aus, Kinder weinten mitten in dem Entsetzen. Als sein Herz mit der Zeit immer weicher geworden war, da hätte er gerne sein Schwert gezogen, um die Leidenden zu schützen und ihre Peiniger zu vertreiben. Aber das schwarze Ross galoppierte unaufhaltsam weiter.
Eines Tages kam er an einen von Bäumen gesäumten Weg. Die Bäume waren schon halb entlaubt, da bald der Winter nahte. Bei einer Quelle versuchte eine alte Frau einen Krug Wasser mit sich zu schleppen, aber es gelang ihr nicht. Der Krug war zu schwer. Sie war in Lumpen gehüllt, zerbrechlich und zittrig, mitleiderregend anzusehen.
Als sie das schwarze Pferd gewahr wurde, flehte sie den Reiter mit ihren halbblinden Augen und schwacher Stimme an: »Habt Erbarmen, Herr! Helft mir!«
Da wollte er gerne helfen. Sie war so traurig, so alt und so zerbrechlich. Mit all seiner Kraft drückte er seine Knie in die Weichen des Rappen, um ihn zum Stehen zu bringen, er straffte gewaltig die Zügel, um dem wilden Galopp Einhalt zu gebieten. Er redete auf das Tier ein, er bat es inständig. Nichts von alledem half. Da senkte der Unglückliche hilflos und verzweifelt das Haupt. Aus seinen Augen liefen Tränen, die ersten, die er je in seinem Leben vergossen hatte, und sie alle fielen in den Krug, der an seinem Halse hing. Und siehe, das Pferd blieb stehen. Der Krug war voll.
Märchen aus Südfrankreich