Die geschwätzige Chwesska

Die geschwätzige Chwesska

Nichts Schlimmeres gibt es als Menschen, die ihre Zunge nicht im Zaum halten können. Am allerschlimmsten ist es um die Weiber bestellt. Kaum haben sie etwas erfahren, rennen sie zur Nachbarin.
„Ach, liebe Gevatterin, was ich da gehört habe! Euch kann ich es ja erzählen, aber sprecht um Himmels willen nicht darüber, denn keine Menschenseele darf davon ein Sterbenswörtchen erfahren!“
Die liebe Gevatterin aber erzählt’s wiederum einer Gevatterin, die einer dritten, die dritte einer fünften und zehnten, und schon weiß das ganze Dorf, was niemand wissen sollte.

Und nun erzähle ich euch mein Märchen.

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hießen Petro und Chwesska. Chwesska war ein schmuckes Weibchen vom Scheitel bis zur Sohle; sie hatte nur einen Makel: Ihre Zunge war allzu flink. Was immer Petro ihr auch erzählen mochte, ihre geschwätzige Zunge plauderte alles aus. Am liebsten hätte der Mann seiner Frau gar nichts mehr erzählt. Er redete mit ihr im guten wie im bösen, gegen ihre Schwatzhaftigkeit aber war kein Kraut gewachsen. Weiterlesen

Für wen der Vogel sang

Für wen der Vogel sang

Zwei Freunde gingen durch den Wald und hörten einen Vogel singen.
„Höre, Freund, wie schön der Vogel für mich singt!“ sprach der erste.
„Er singt nicht für dich, sondern für mich!“ antwortete der zweite.
„Nein, für mich!“ widersprach der erste.
Ein Wort gab das andere, sie stritten miteinander, und gleich nach der Heimkehr lief der erste zum Richter, um seinen Freund zu verklagen.
„Und wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter“, schloss er, „dann bringe ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Ochsen!“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter. „Dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren!“
Da ging der erste Freund erleichtert seiner Wege. Kaum war er aber fort, da kam der zweite, trug dem Richter ihren Streitfall vor und schloss:
„Wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter, dann will ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Hammel zutreiben.“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter, „dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren.“
Am nächsten Morgen stellten sich beide Kläger beim Gericht ein, jeder in der Hoffnung, den Rechtsstreit zu gewinnen. Sie sahen sich mit scheelen Blicken an. Der Richter gab sich den Anschein, als sähe er sie zum ersten Mal, und ließ sich den Fall vortragen.
„Meine Freunde!“ sprach er dann. „Ihr seid beide im Irrtum. Der Vogel hat weder für den einen noch für den anderen gesungen. Falls ihr mir versprecht, euch zu versöhnen, wie es sich für ehrenhafte Leute schickt, will ich euch sagen, für wen er sang. Seid ihr damit einverstanden?“
„Jawohl, Herr Richter!“ riefen die Freunde wie aus einem Munde.
„Wohlan“, sprach der Richter. „Der Vogel sang für mich.“
„Ergebensten Dank, Euer Gnaden!“ antworteten die Freunde, versöhnten sich und gingen heim. Unterwegs besprachen sie den Fall und kamen zu dem Schluss, dass der Vogel in der Tat für den Herrn Richter gesungen, ihm nämlich einen Ochsen und einen Hammel eingebracht hatte.

Märchen aus Jugoslawien