Sigo und die braune Bärin

Es lebte einmal im Urwald weit im Norden ein Junge namens Sigo, dem der Vater gestorben war. Der Stiefvater, Schwarzes Horn genannt, führte eines Tages den Kleinen tief in den Wald und ließ ihn dort. Den frierenden, hungrigen Jungen fand die Braune Bärin, gab ihm einen Schwarzbeerenfladen und brachte ihn in ihr Lager.
Drei zottige Bärenjunge, die Söhne und das Töchterchen der Bärin, beschnupperten den Gast und legten sich vertraulich neben ihm nieder.
Sigo blieb bei der Bärenmutter und vergaß sein früheres Leben. Es schien ihm, dass er als Bärenjunges geboren sei.
Als der Frühling kam, ging die Braune Bärin mit“ ihren Kleinen an den nahen Fluss und fütterte sie mit Stinten. Sie watete in die Flut, setzte sich, fing die sil­brigen Fische und warf sie den Jungen am Ufer zu, damit diese sich den Bauch vollschlügen.
Plötzlich hob sie den Kopf und sog die Luft ein.
„Flieht, Kinder“, rief sie, „lauft, so schnell die Füße euch tragen, ins Lager zurück!“ Rief es und tappte auch selbst hinterdrein.
Im Lager fragte Sigo sie flüsternd: „Vor welchem Tier flohen wir denn?“„Ein Mensch, wie auch du einer bist, kam durch den Wald gestrichen. Menschen sind böse, sie töten die Tiere. Seht oder hört ihr einen nahen, macht euch davon!“
Dem milden Frühling folgte ein kurzer, schöner Sommer. Und schon wurde es Herbst. Die Sonne stand nicht mehr hoch am Himmel und versank immer früher hinter den Bäumen. Die Braune Bärin ließ die Kinder tagaus, tagein Beeren sammeln. Eines Morgens fiel der Schnee in dichten Flocken und bedeckte das Land.
Man musste eine Unterkunft für den Winter suchen.
Die Bärin beschloss, den Winterschlaf in einem mächtigen, abgestorbenen Baum zu halten, der innen hohl war. Die Höhle war dunkel, doch warm. Es ließ sich hier recht gut überwintern, zumal auch der Vorrat an Schwarzbeerenfladen ausreichend war. Bis eines Tages …

Eines Tages durchstreiften Jäger vom Stamm der Wabanaku den kahlen Wald, bemerkten Spuren, die Tierkrallen an den Baumrinden hinterlassen hatten, sahen auch weißen Dunst aus einem hohlen Baum emporsteigen und errieten sofort, dass Bären darin ihren Winterschlaf hielten.
Die Braune Bärin, die das Hoho der Jäger vernommen hatte, weckte ihre Kleinen und sprach: „Menschen umringen den Baum! Ich springe als erste aus der Höhle, damit die Jäger mir nachsetzen. Seht in­zwischen, dass ihr davonkommt, sonst seid ihr verloren. Du, Menschenkind, bitte die Jäger, mein Jüngstes zu schonen!“
Vorsichtig schob sich die Bärin aus der Höhle und machte gleich einen gewaltigen Sprung seitwärts, denn schon schössen die Jäger ihre Pfeile auf sie ab. Tödlich getroffen, brach sie zusammen. Unterdessen entsprangen die Bärenjungen der Höhle. Als letzter kam Sigo hervor und rief den Jägern zu: „Halt! Schießt nicht, ihr seht einen Menschen und euresgleichen! Tötet auch meine Schwester nicht!“
Erschrocken ließen die Jäger Pfeil und Bogen sinken. Sigo erzählte ihnen, wie der Stiefvater ihn im Walde gelassen und die Braune Bärin sich seiner angenommen hatte. Da staunten die Jäger, holten Speck hervor, fütterten das Bärenjunge und bedauerten aufrichtig, die Mutter niedergestreckt zu haben.
Einen Tag lang beweinte Sigo die Bärin. Dann sagte er: „Von heute an will ich mich Sohn der Braunen Bärin nennen. Ich schwöre, nie einen Pfeil auf meine Pflegegeschwister abzuschießen.“
Seitdem sagen die Abenaki-Indianer, sobald sie im winterlich kahlen Urwald Dunstwölkchen emporschlagen sehen, da koche die Bärenmutter ihren Jungen das Mittagessen, und lassen die Tiere ungestört ihren Winterschlaf halten.

Märchen der Abenaki