Für wen der Vogel sang

Zwei Freunde gingen durch den Wald und hörten einen Vogel singen.
„Höre, Freund, wie schön der Vogel für mich singt!“ sprach der erste.
„Er singt nicht für dich, sondern für mich!“ antwortete der zweite.
„Nein, für mich!“ widersprach der erste.
Ein Wort gab das andere, sie stritten miteinander, und gleich nach der Heimkehr lief der erste zum Richter, um seinen Freund zu verklagen.
„Und wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter“, schloss er, „dann bringe ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Ochsen!“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter. „Dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren!“
Da ging der erste Freund erleichtert seiner Wege. Kaum war er aber fort, da kam der zweite, trug dem Richter ihren Streitfall vor und schloss:
„Wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter, dann will ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Hammel zutreiben.“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter, „dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren.“
Am nächsten Morgen stellten sich beide Kläger beim Gericht ein, jeder in der Hoffnung, den Rechtsstreit zu gewinnen. Sie sahen sich mit scheelen Blicken an. Der Richter gab sich den Anschein, als sähe er sie zum ersten Mal, und ließ sich den Fall vortragen.
„Meine Freunde!“ sprach er dann. „Ihr seid beide im Irrtum. Der Vogel hat weder für den einen noch für den anderen gesungen. Falls ihr mir versprecht, euch zu versöhnen, wie es sich für ehrenhafte Leute schickt, will ich euch sagen, für wen er sang. Seid ihr damit einverstanden?“
„Jawohl, Herr Richter!“ riefen die Freunde wie aus einem Munde.
„Wohlan“, sprach der Richter. „Der Vogel sang für mich.“
„Ergebensten Dank, Euer Gnaden!“ antworteten die Freunde, versöhnten sich und gingen heim. Unterwegs besprachen sie den Fall und kamen zu dem Schluss, dass der Vogel in der Tat für den Herrn Richter gesungen, ihm nämlich einen Ochsen und einen Hammel eingebracht hatte.

Märchen aus Jugoslawien