Vom unverhofften Glück

Es war einmal ein Mann, und dieser Mann tat den ganzen Tag nichts anderes, als warten, bis ihm eines Tages das unverhoffte Glück begegne und er ohne Arbeit reich würde.
So lebte er lange und lange, bis er eines Tages hörte, dass angeblich irgendwo irgendeine Insel sei, wo einäugige Menschen leben.
„Siehe, da ist mein Glück“, dachte dieser Mensch sogleich. „Ich werde auf diese Insel fahren, werde mir einen von diesen Einäugigen fangen, ich werde ihn bei uns auf den Märkten für einen Groschen zeigen, und bald werde ich ein reicher Mann sein!“
Und je mehr er darüber nachdachte, je mehr er über die Sache grübelte, um so besser gefiel ihm sein Einfall.
Als er endgültig entschlossen war, verkaufte er das letzte, was er hatte, ging auf ein Schiff und fuhr los. Nach langer Reise kam er auf die Insel der Einäugigen, und tatsächlich, kaum war er ans Ufer gegangen, sah er dort Menschen, die nur ein Auge hatten. Doch auch diese Einäugigen erblickten den Mann mit zwei Augen und riefen sofort: „Seht, da ist das unverhoffte Glück. Wir wollen ihn fangen und ihn für einen Groschen auf den Märkten zeigen, und bald werden wir alle reiche Leute sein!“
Gesagt, getan: sie fingen den Zweiäugigen, schleppten ihn fort und zeigten ihn für einen Groschen auf den Märkten.
So geht es jenen, die auf das unverhoffte Glück warten.

Märchen aus Japan

 

Der Wolf, der dem Bauern diente

Einst lebte ein Bauer, der war bettelarm und hatte nichts zu essen als Kleiebrot. Eines Tages schickte ihn sein Fronherr in den Wald, Bruchholz zu sammeln. Der Bauer arbeitete bis zum Nachmittag, und als ihn der Hunger plagte, nahm er sein Stück Kleiebrot und wollte schon hineinbeißen. Doch er dachte in seinem Sinn: Nein, ich will es lieber an einen Ast hängen, dort mag es bleiben, bis ich die Arbeit beendet habe. Bevor ich heimfahre, esse ich es dann.

Aber als er die Fuhre voll Bruchholz geladen hatte und sich das Brot holen wollte, sah er, dass es verschwunden war. Traurig, aber nicht zu ändern. So kehrte er hungrig heim. Just zu dieser Zeit rief der heilige Juri, der Beschützer der Tiere, alles Getier zu sich und fragte ein jedes, was es an diesem Tag getrieben hätte. Eines berichtete, es habe beim Bauern ein Schwein gerissen, und ein anderes, dass es ein Kalb gefressen. Ein jedes stand Rede und Antwort. Schließlich trat der Wolf herzu und sprach: „Ich, heiliger Juri, habe einem Bauern das Kleiebrot weggefressen, das er an einen Ast gehängt hatte.“ „Wie konntest du den armen Bauern nur so kränken! Er hatte nichts als das Stück Kleiebrot, und das hast du ihm weggefressen! Sehr schlecht ist es, einen Armen zu kränken. Zur Strafe dafür wirst du dich bei dem Bauern verdingen und ihm drei Jahre lang dienen!“ Also machte sich der Wolf auf, um seine Schuld abzudienen. Er verwandelte sich in einen jungen Burschen, ging zu dem Bauern und bat: „Oheim, nehmt mich als Knecht an. Ihr braucht mir keinen Lohn zu zahlen, fürs tägliche Brot allein will ich Euch dienen.“ Weiterlesen

Die geschwätzige Chwesska

Die geschwätzige Chwesska

Nichts Schlimmeres gibt es als Menschen, die ihre Zunge nicht im Zaum halten können. Am allerschlimmsten ist es um die Weiber bestellt. Kaum haben sie etwas erfahren, rennen sie zur Nachbarin.
„Ach, liebe Gevatterin, was ich da gehört habe! Euch kann ich es ja erzählen, aber sprecht um Himmels willen nicht darüber, denn keine Menschenseele darf davon ein Sterbenswörtchen erfahren!“
Die liebe Gevatterin aber erzählt’s wiederum einer Gevatterin, die einer dritten, die dritte einer fünften und zehnten, und schon weiß das ganze Dorf, was niemand wissen sollte.

Und nun erzähle ich euch mein Märchen.

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hießen Petro und Chwesska. Chwesska war ein schmuckes Weibchen vom Scheitel bis zur Sohle; sie hatte nur einen Makel: Ihre Zunge war allzu flink. Was immer Petro ihr auch erzählen mochte, ihre geschwätzige Zunge plauderte alles aus. Am liebsten hätte der Mann seiner Frau gar nichts mehr erzählt. Er redete mit ihr im guten wie im bösen, gegen ihre Schwatzhaftigkeit aber war kein Kraut gewachsen. Weiterlesen

Für wen der Vogel sang

Für wen der Vogel sang

Zwei Freunde gingen durch den Wald und hörten einen Vogel singen.
„Höre, Freund, wie schön der Vogel für mich singt!“ sprach der erste.
„Er singt nicht für dich, sondern für mich!“ antwortete der zweite.
„Nein, für mich!“ widersprach der erste.
Ein Wort gab das andere, sie stritten miteinander, und gleich nach der Heimkehr lief der erste zum Richter, um seinen Freund zu verklagen.
„Und wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter“, schloss er, „dann bringe ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Ochsen!“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter. „Dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren!“
Da ging der erste Freund erleichtert seiner Wege. Kaum war er aber fort, da kam der zweite, trug dem Richter ihren Streitfall vor und schloss:
„Wenn Sie meine Partei ergreifen, Herr Richter, dann will ich Ihnen auch heute Abend einen fetten Hammel zutreiben.“
„Keine Sorge“, erwiderte der Richter, „dein Freund wird den Rechtsstreit verlieren.“
Am nächsten Morgen stellten sich beide Kläger beim Gericht ein, jeder in der Hoffnung, den Rechtsstreit zu gewinnen. Sie sahen sich mit scheelen Blicken an. Der Richter gab sich den Anschein, als sähe er sie zum ersten Mal, und ließ sich den Fall vortragen.
„Meine Freunde!“ sprach er dann. „Ihr seid beide im Irrtum. Der Vogel hat weder für den einen noch für den anderen gesungen. Falls ihr mir versprecht, euch zu versöhnen, wie es sich für ehrenhafte Leute schickt, will ich euch sagen, für wen er sang. Seid ihr damit einverstanden?“
„Jawohl, Herr Richter!“ riefen die Freunde wie aus einem Munde.
„Wohlan“, sprach der Richter. „Der Vogel sang für mich.“
„Ergebensten Dank, Euer Gnaden!“ antworteten die Freunde, versöhnten sich und gingen heim. Unterwegs besprachen sie den Fall und kamen zu dem Schluss, dass der Vogel in der Tat für den Herrn Richter gesungen, ihm nämlich einen Ochsen und einen Hammel eingebracht hatte.

Märchen aus Jugoslawien

Der Kreuzschnabel

Der Kreuzschnabel

Als der Heiland litt am Kreuze,
Himmelwärts den Blick gewandt,
Fühlt‘ er heimlich sanftes Zucken
An der stahldurchbohrten Hand.

Hier, von allen ganz verlassen,
Sieht er eifrig mit Bemühn
An dem einen starken Nagel
Ein barmherzig Vöglein ziehn.

Blutbeträuft und ohne Rasten
Mit dem Schnabel zart und klein,
Möcht‘ den Heiland er vom Kreuze,
Seines Schöpfers Sohn befrein.

Und der Heiland spricht in Milde:
„Sei gesegnet für und für!
Trag‘ das Zeichen dieser Stunde,
Ewig Blut und Kreuzeszier!“

Kreuzesschnabel heißt das Vöglein;
Ganz bedeckt vom Blut so klar,
Singt es tief im Fichtenwalde
Märchenhaft und wunderbar.

Julius Mosen