Eines Tages kam der Sohn einer armen Witwe zum Herrscher des Landes und sagte: „Herr König, stell mich als Hirten an! All die Jahre hat mich die Mutter ernährt, nun ist die Reihe an mir, für uns beide zu sorgen.“
„Du scheinst mir ein rechtschaffenes Bürschlein zu sein“, sprach der Herrscher, „ich glaube, du bringst es mit der Zeit zu etwas. Hüte also meine Schafe drei Jahre lang!“
Ein ganzes Jahr hütete der Sohn der Witwe die Schafe des Königs, ohne ein Auge von ihnen zu wenden, erbat sich aber darauf Urlaub und ging die Mutter besuchen. Wie er nun so einherschritt und immer einen Fuß vor den anderen setzte, sah er ein Schlangenjunges den Weg entlang kriechen. Er hob es auf, trug es ins Gebüsch am Wegrand und sagte: „Dummerchen, wer kriecht schon die Landstraße entlang! Es fehlte nicht viel, und ich hätte dich zertreten.“
Als der Sohn der Witwe drei Jahre beim König abgedient hatte, ließ der ihn ziehen und gab ihm eine Herde Schafe als Lohn für die Arbeit mit auf den Weg.
Wie nun der Junge, die Herde vor sich treibend und auf der Flöte blasend, dahinzog, kam eine Schlange ihm vor die Füße gekrochen, grüßte ihn mit Menschenstimme und sagte: „Kennst du mich noch, Kleiner? Ich habe es nicht vergessen, dass du einst gut zu mir warst, und will es dir vergelten. Weil du ein mitleidiges Herz hast, sollst du fortan die Sprache der Pflanzen und Tiere verstehen. Nichts soll dir unbekannt bleiben, was sie einander erzählen. Du darfst dir aber nichts anmerken lassen, denn sagst du es jemandem, wirst du zu Stein!“
Der Junge bedankte sich, nahm von der Schlange Abschied und trieb seine Herde weiter. Bald kam er an einem Gehöft vorbei, vor dem das Korn zum Trocknen ausgeschüttet war. Das Mädchen, das neben dem Kornhaufen Wache hielt, um die Vögel fernzuhalten, erschrak vor dem Fremden und lief ins Haus. Da schwirrten die Vögel herbei, pickten die Körner und zwitscherten fröhlich: „Wie gut, Hirt, dass du hier vorbeiziehst! So können wir uns gütlich tun!“
Da musste der Junge lachen, und das Mädchen, das ihn prusten hörte, trat vor die Haustür und fragte: „Weshalb lachst du, Hirt?“
Der Junge blieb ihr die Antwort schuldig, denn er hatte die Warnung der Schlange nicht vergessen, das Mädchen aber lief ihm nach und drängte: „Sag mir doch, weshalb du gelacht hast!“
Da machte der Junge halt, um auszuruhen, und legte sich unter eine Eiche am Wegrand, denn er dachte auf diese Weise das Mädchen loszuwerden.
Auf der Eiche saß eine Krähe mit ihrem Jungen. Das Junge prahlte, es werde dem Menschen dort unten die Augen im Schlafe aushacken. Wohl warnte die Alte, dass die Menschen listige Wesen seien, das Junge aber hörte nicht auf sie und setzte sich dem Hirten dreist auf die Brust. Der packte zu und ließ das freche Ding nicht wieder los. Da schrie es aus Leibeskräften: „Mutter, rette mich aus der Not!“
„Wie sollt‘ ich dir helfen?“ entgegnete ihm die alte Krähe. „Verstünde der Mensch die Sprache der Vögel, würde ich ihm sagen, dass sich unter der Eiche ein Topf mit Gold befindet. Da würde er dich schon fliegen lassen.“
Da ließ der Junge den Vogel los, grub unter den Wurzeln der Eiche und fand den Topf mit dem Gold. Das Mädchen wunderte sich darüber und setzte ihm zu: „Weshalb hast du gelacht, und woher wusstest du, dass hier Gold verborgen ist?“
Der Junge schwieg sich aus, das Mädchen aber, das ebenso neugierig wie eigensinnig war, bedrängte ihn mit Fragen und folgte ihm bis auf den Hof seiner Mutter. Dort hörte er die Katze zum Hahn sagen: „Oh, der dumme Junge, gleich verrät er dem Mädchen sein Geheimnis und wird zu Stein. Wer wirft uns dann einen leckeren Bissen hin?“
„So etwas Dummes!“ rief auch der Hahn und schlug mit den Flügeln. „Ich komme mit zehn Hennen zurecht, er aber wird mit einer solchen Trine nicht fertig. Warum jagt er sie nicht einfach davon?“
Da musste der Junge abermals lachen, doch bevor das Mädchen nach dem Grund fragen konnte, nahm er eine Rute zur Hand und machte ein so finsteres Gesicht, dass dem Mädchen die Worte im Halse steckenblieben und es davonlief.
Grusinisches Volksmärchen