Es war Frühling.
Auf einer Weide graste eine Ziege mit ihrem Zicklein.
Die Ziege suchte und wies dem Kleinen fürsorglich das zarte Hammelgras, das seine ersten Blüten öffnete und weiß wie Schnee auf der noch gelbbraunen Steppe leuchtete.
Als sich kein Hälmchen mehr fand, hängte die Ziege dem Zicklein eine kleine kupferne Glocke um den Hals. „Ich gehe jetzt und sehe mich nach einem anderen Weideplatz um. Warte hier auf mich. Wenn jemand dir etwas zuleide tun will, läute! Dann komme ich und helfe dir.“
„Ja“, sagte das Zicklein; und die Ziege lief.
Sie hatte kaum ein paar Sprünge gewagt, als sie die Schelle klingen hörte. Wie sie erschrak, kehrtmachte und rannte!
„Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“ fragte sie ganz außer Atem.
„Eine Fliege hat sich auf mein Bein gesetzt. Ich bitte dich, jage sie weg“, antwortete das Zicklein.
„Und ich fürchtete schon, die Wölfe kämen! Dass du mir nicht noch einmal läutest, wenn du nicht in Gefahr bist!“ schalt die Ziege und machte sich wieder auf den Weg.
Sie war jedoch kaum in der ersten Schlucht verschwunden, als sie die Schelle aufs Neue vernahm.
Wieder erschrak sie und rannte.
„Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“
Das Zicklein blinzelte. „Mir ist ein Staubkorn ins Auge geflogen. Ich bitte dich, hol es heraus“, antwortete es.
„Und ich fürchtete schon, die Wölfe kämen! Dass du mir nicht noch einmal läutest, wenn du nicht wirklich in Gefahr bist!“
Die Ziege wischte das Auge des Zickleins aus und machte sich abermals auf den Weg.
Sie hatte den zweiten Hügel noch nicht erreicht, als die Schelle des Zickleins wieder erklang. Kehre ich um oder gehe ich weiter? fragte sich die Ziege und – lief zum Zicklein zurück.
„Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“
„Das trockene Gras ist an meinem Pelz hängengeblieben. Ich bitte dich, schüttle es ab.“
„Schüttle es selbst ab und laß dir nicht einfallen, mich noch ein einziges Mal wegen solch einer Dummheit in Schrecken und Angst zu versetzen!“
Die Ziege rannte davon. Wanderte über Berg und Tal. Wurde müde und legte sich nieder. Die Augen fielen ihr gerade zu, als in der Ferne erneut das Läuten der Glocke ertönte.
„Wieder der Unfug“, sagte die Ziege schon halb im Traum.
Als sie erwachte, entdeckte sie grünendes Gras. Ringsum. Und sie brach auf, um das Zicklein zum neuen Weideplatz zu holen.
Sie lief und lief. Suchte und suchte. Aber sie fand es nicht mehr.
„Ach, du mein armes dummes Zicklein. Nun haben dich doch die Wölfe erwischt“, klagte und weinte die Ziege da und hob mit den Hörnern die kleine kupferne Glocke auf, die im gelbbraunen Grase lag.
Märchen aus der Mongolei