Kieselchen war ein sehr guter Junge. Er hütete gern das Vieh, er liebte die Tiere, die Vögel und die Pflanzen. Während des Hütens schnitzte er aus Holz allerlei Figuren, Löffel oder Pfeifen, oder er sammelte Beeren und Pilze für seine Mutter.
An einem schönen Sommertag fand Kieselchen am Wegrand eine große reife Erdbeere. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, nahm diese Erdbeere in die Hand, betrachtete sie und sprach zu sich selbst: „Ach, wenn sich doch die Beere jetzt in ein hübsches Mädchen verwandelte! Dann würden wir beide Vieh hüten und singen, Beeren sammeln und spielen.“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als die Erdbeere plötzlich zu Boden fiel und ein schönes Mädchen in einem roten Kleidchen mit grünen Schleifen im blonden Haar vor ihm stand. Kieselchen blieb vor Staunen der Mund offen. Das schöne Mädchen aber verneigte sich vor ihm, lächelte allerliebst und sprach: „Hab keine Angst vor mir, Kieselchen. Ich werde dir beim Hüten helfen, dann hast du keine Langeweile mehr.“
Kieselchen war froh und teilte sogleich das Frühstücksbrot, das seine Mutter ihm mitgegeben hatte, mit dem Mädchen, dem er den Namen Beerchen gab. Beerchen war ein lustiges Mädchen. Den ganzen Tag sang und spielte es mit Kieselchen und erzählte ihm viele schöne Geschichten aus dem Wald. Inzwischen war es Abend geworden, und Kieselchen sprach zu dem Mädchen: „Beerchen, die Sonne bereitet sich zum Schlafen vor, es wird Zeit, das Vieh heimzutreiben. Das werden wir jetzt gemeinsam tun. Meine Mutter ist gut, sie wird dich wie die eigene Tochter aufnehmen.“
„Nein, Kieselchen“, erwiderte Beerchen. „Du musst allein gehen. Ich bleibe hier. Ich krieche unter einen Baumstumpf und verbringe dort die Nacht. Wenn du morgen früh wieder kommst und rufst: „Beerchen, komm heraus!“, werde ich unter dem Baumstumpf hervorkriechen.“ Kieselchen trieb das Vieh heim, während Beerchen im Wald zurückblieb.
Als er am nächsten Morgen das Vieh wieder hinaustrieb und zu dem Baumstumpf kam, rief er: „Beerchen, komm heraus!“ Sogleich kroch Beerchen hervor und beide hüteten das Vieh bis zum Abend.
So ging das nun alle Tage. Der schöne Sommer war bald dahin, und der Herbst nahte. Das Laub wurde gelb und fiel ab. Die Luft war kühl. Im Walde wurde es immer trauriger.
Eines Morgens sprach Beerchen zu Kieselchen: „Ich fange an zu frieren und kann nicht länger hierbleiben.“
„Bleib noch ein wenig, Beerchen, bleib doch noch“, bat der Junge. „Ohne dich ist es hier gar nicht mehr schön.“ Beerchen aber hörte nicht auf Kieselchen.
Es wurde immer kälter. Der Himmel hatte sich bezogen, und es regnete oft. Kieselchen kam wie jeden Tag mit seiner Herde zu dem Baumstumpf und rief: „Beerchen, komm heraus!“ Aber Beerchen kam nicht. Da schaute Kieselchen unter den Baumstumpf und fand Beerchens Kleider, die der Wind zerzaust und der Regen durchweicht hatte.
Kieselchen trauerte so sehr, dass ihm vor Schmerz das Herz brach: Er fiel zu Boden und verwandelte sich in einen Stein. Der Wind fegte die Blätter der Bäume zusammen und deckte Kieselchen zu.
Die Kühe muhten, die Schafe blökten und riefen nach ihrem Hütejungen. Kieselchen aber blieb ein Stein, er durchlitt die bittere Winterkälte und wartete auf den kommenden Sommer und auf sein Beerchen.
Märchen aus Litauen