Kullerkorn

Es war einmal ein Mann, der hatte sechs Söhne und eine Tochter. Eines Tages wollten die Söhne pflügen gehen und baten die Schwester, sie solle ihnen das Mittagessen bringen. Sie aber fragte: „Wie soll ich euch finden? Ich weiß doch nicht, wo ihr seid.“
Sie antworteten: „Wir ziehen eine Furche von unserem Haus bis zum Feld, auf dem wir pflügen. Geh nur immer der Furche nach!“
Im Wald aber, in der Nähe des Feldes, lebte ein Drache, der schüttete die Furche zu und zog eine neue, die bis zu seinem Gehöft führte. Als das Mädchen nun mit dem Essen kam, folgte es der neuen Furche und gelangte nicht zu ihren Brüdern, sondern auf das Gehöft und somit in die Gewalt des Drachen.
Die Söhne aber kamen abends heim und sprachen zur Mutter: „Wir haben den ganzen Tag gepflügt, und du hast uns kein Essen geschickt.“
„Aber Aljonka hat es euch doch gebracht! Ich dachte, sie käme mit euch zurück. Sie wird sich doch nicht etwa verirrt haben?“
Da sagten die Brüder: „Wir müssen sie suchen gehen!“
Sie gingen alle sechs der Furche nach und kamen zum Palast des Drachen. Sie gingen hinein, blickten sich um – und siehe, da saß ihre Schwester.
„Ach, liebe Brüder, wo versteck ich euch nur, wenn der Drache kommt? Er frisst euch doch alle auf!“
Da flog der Drache auch schon heran. „Puh“, fauchte er, „ich rieche Menschenfleisch! Na, ihr Bürschchen, wollt ihr euch schlagen, oder wollt ihr euch fügen?“
„Nein“, riefen sie mutig, „wir wollen uns schlagen!“
„So kommt auf die eherne Tenne.“
Sie gingen auf die eherne Tenne, doch nicht lange währte der Kampf. Mit einem Schlag streckte sie der Drache zu Boden, so dass sie kaum noch atmeten. Darauf nahm der Drache die sechs Brüder und warf sie in ein tiefes Verlies.
Die Mutter und der Vater warteten auf die Söhne, doch die kamen nicht zurück.
Eines Tages ging die Frau zum Wäschespülen an den Fluss. Da kullerte ihr ein kleines Korn über den Weg. Sie las es auf, besah es sich und aß es auf.
Nach einer gewissen Zeit gebar sie einen Sohn, den nannte sie Kullerkorn. Er wuchs und wuchs und wurde ungewöhnlich groß für seine Jahre.
Einmal grub der Vater mit seinem Sohne einen Brunnen; dabei stießen sie auf einen riesengroßen Stein. Der Vater ging, um Leute zu holen, die ihnen helfen sollten, den schweren Stein zu heben. Währenddessen aber hob ihn Kullerkorn ganz allein aus dem Boden. Als die Leute kamen, entsetzten sie sich über den Burschen, der solche Kräfte hatte, und wollten ihn erschlagen. Er aber warf den Stein in die Luft und fing ihn wie einen Ball wieder auf. Als sie das sahen, liefen sie vor Schreck auseinander.
Vater und Sohn gruben weiter, und mit einem Mal stießen sie auf einen großen Eisenklumpen. Kullerkorn grub ihn aus und verwahrte ihn.
Einige Zeit darauf fragte Kullerkorn seine Eltern: „Habe ich nicht auch Brüder und Schwestern gehabt?“
„Ach, lieber Sohn“, antworteten sie, „wohl hattest du eine Schwester und sechs Brüder, aber so und so ist es ihnen ergangen.“ Und sie erzählten ihm alles. „Ich will mich aufmachen“, sagte er, „und sie suchen gehen.“
Die Eltern wollten ihn davon abbringen und sprachen: „Geh nicht, lieber Sohn! Zu sechst haben sich unsere Söhne aufgemacht und sind umgekommen, da wirst du allein ganz gewiss zugrunde gehen.“
„Und dennoch werde ich gehen“, sagte er. „Das wäre was – sein eigen Blut nicht zu befreien!“
Er nahm den Eisenklumpen, den er einmal gefunden hatte, und trug ihn zum Schmied: „Schmiede mir daraus ein Schwert“, sprach er, „so groß du kannst!“
Und der Schmied machte ihm ein Schwert, das war so groß, dass sie es kaum aus der Schmiede herausbekamen. Kullerkorn aber nahm es mit einer Hand auf, schleuderte es in die Höhe und sprach zum Vater:
„Ich lege mich jetzt schlafen. Nach zwölf Tagen wird das Schwert wieder herunterkommen, dann weckst du mich!“ Und er legte sich hin.
Am dreizehnten Tag kam das Schwert angesaust, und der Vater weckte den Sohn. Der sprang auf und hielt die Faust hin. Das Schwert prallte dagegen und krach! – brach es mitten entzwei. Da rief Kullerkorn: „Ich brauch ein besseres Schwert, wenn ich Brüder und Schwester befreien will!“ Und er trug die beiden Teile wieder zum Schmied.
„He, mache mir doch ein handgerechtes Schwert!“ sprach er. Der Schmied machte ihm ein neues Schwert, das war noch größer als das vorige. Kullerkorn schleuderte es wieder senkrecht in die Höhe und legte sich für zwölf Tage schlafen. Am dreizehnten Tag erdröhnte die Luft, und das Schwert kam zurück. Die Eltern weckten Kullerkorn Flugs sprang er auf und hielt die Faust hin. Das Schwert prallte dagegen, verbog sich aber nur ein wenig.
„Nun, damit kann ich die Geschwister suchen gehen. Röste mir Zwieback, Mutter, dann mach ich mich auf den Weg.“
Er tat den Zwieback in einen Beutel, packte das Schwert, nahm Abschied und zog davon.
Er folgte der alten Furche, die kaum noch zu sehen war, und gelangte in den Wald. Immer weiter wanderte er, und schließlich erreichte er das Gehöft des Drachen. Er ging über den Hof und trat ins Haus. Der Drache aber war nicht da, wohl aber Aljonka.
„Guten Tag, du Schöne!“ sagte Kullerkorn.
„Guten Tag, wackerer Bursch! Warum bist du hierhergekommen? Wenn der Drache dich sieht, wird er dich fressen.“
„Vielleicht frisst er mich auch nicht! Aber sag, wer bist du denn?“
„Ich war meiner Eltern einzige Tochter, doch der Drache raubte mich. Meine sechs Brüder wollten mich befreien, vermochten es aber nicht.“
„Und wo sind deine Brüder?“
„Der Drache hat sie ins Verlies geworfen, und ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben.“
„Vielleicht kann ich dich befreien“, sagte Kullerkorn.
„Wo denkst du hin! Zu sechst haben sie es nicht vermocht, und du bist nur einer!“
„Das macht nichts“, sagte er, setzte sich ans Fenster und wartete.
Bald darauf kam der Drache. Er flog in das Zimmer und blähte die Nüstern: „Hm, hm! Es riecht nach Menschenfleisch!“
„Freilich riecht’s“, antwortete Kullerkorn, „weil ich hier bin.“
„Aha, Bürschchen! Wie ist es nun: Willst du dich schlagen, oder willst du dich fügen?“
„Wo werd‘ ich mich fügen!“ rief Kullerkorn.
„Dann komm mit auf die eherne Tenne.“
„Nur zu!“
Dort sprach der Drache: „Schlag du zuerst!“
„Nein, du“, sagte Kullerkorn.
Da packte ihn der Drache und trieb ihn bis zu den Knöcheln in den ehernen Boden. Kullerkorn aber stieg heraus, schwang das Schwert und schlug den Drachen bis an die Knie hinein. Mühsam zog sich der Drache wieder heraus und trieb Kullerkorn bis über die Knie in den Boden. Kullerkorn aber fuhr flink wieder heraus, schwang abermals das Schwert, schlug den Drachen bis an die Hüften in den Boden und tötete ihn mit dem dritten Schwertstreich.
Nun stieg Kullerkorn ins Verlies hinab und öffnete seinen Brüdern die Türen. Er geleitete sie ins Freie, führte seine Schwester Aljonka hinaus, nahm alles Silber und Gold des Drachen und machte sich auf den Heimweg. Er hatte ihnen nicht verraten, dass er ihr Bruder war. Als sie ein Stück gegangen waren, setzten sie sich zur Rast unter eine Eiche. Kullerkorn war vom Kampfe müde und schlief fest ein. Da hielten die sechs Brüder Rat und sprachen: „Die Leute werden uns verspotten, dass wir zu sechst den Drachen nicht besiegen konnten. Er aber hat ihn ganz allein getötet und wird auch alle Schätze für sich behalten.“
Sie berieten lange und kamen endlich überein, ihn im Schlaf mit Bast so fest an den Eichenbaum zu binden, dass er sich nicht losmachen konnte; dann würden ihn die wilden Tiere auffressen. Ungesäumt banden sie ihn fest und zogen weiter.
Kullerkorn aber schlief einen Tag und eine Nacht. Als er erwachte, merkte er, dass er festgebunden war. Da fuhr er mit solcher Kraft empor, dass er die Eiche mitsamt den Wurzeln aus dem Boden riss. Er nahm sie auf seine Schulter und ging heim. Die Brüder waren schon angelangt und fragten die Mutter: „Sag, Mutter, hast du noch mehr Kinder gehabt?“
„Freilich, den Sohn Kullerkorn! Er ist ja ausgezogen, euch zu suchen.“
Da sprachen sie: „So haben wir ihn festgebunden! Dann müssen wir ihn wieder befreien!“
Kullerkorn aber, der draußen gestanden und alles gehört hatte, fuhr zornig mit dem Eichenbaum übers Dach, dass das Haus erzitterte, und rief: „So lebt denn wohl, wenn ihr so beschaffen seid! Ich ziehe in die weite Welt.“
Er nahm sein Schwert über die Schultern und brach auf. Wie er so ging und an nichts dachte, sah er mit einem mal links einen Berg stehen und rechts einen Berg stehen. Zwischen beiden aber war ein Mann, der stemmte Hände und Füße gegen die Berge und schob sie auseinander.
„Guten Tag!“ sagte Kullerkorn.
„Guten Tag!“
„Was machst du da, guter Freund?“
„Ich schiebe die Berge auseinander, damit es einen Weg gibt.“
„Und wozu brauchst du diesen Weg?“
„Ich gehe das Glück suchen.“
„Nun, das will ich auch. Wie heißt du denn?“
„Rückeberg. Und du?“
„Kullerkorn. Komm, gehen wir miteinander.“
„Einverstanden.“ Und als sie ein Stück gegangen waren, sahen sie im Walde einen Mann, der riss mit einer Hand die Eichen samt den Wurzeln aus der Erde.
„Guten Tag!“
Der andere blickte kaum auf. „Guten Tag!“
„Was machst du da, guter Freund?“
„Ich reiße die Bäume aus, damit Platz wird.“
„Und wozu brauchst du diesen Platz?“
„Ich gehe das Glück suchen.“
„Nun, das wollen wir auch. Wie heißt du denn?“
„Ziehbaum. Und ihr?“
„Kullerkorn und Rückeberg. Komm, gehen wir miteinander.“
„Einverstanden.“ Zu dritt gingen sie weiter, und über eine Weile sahen sie am Fluss einen Mann, der zwirbelte seinen riesigen Bart, da wogte das Wasser auseinander und gab den Flussgrund frei.
Die drei grüßten: „Guten Tag!“
„Guten Tag!“ „Was machst du da?“
„Ich halte das Wasser an, damit man trockenen Fußes durch den Fluss gehen kann.“
„Und warum willst du durch den Fluss gehen?“
„Ich gehe das Glück suchen.“
„Nun, das wollen wir auch! Wie heißt du denn?“
„Zwirbelbart. Und ihr?“
„Kullerkorn, Rückeberg und Ziehbaum. Komm, gehen wir miteinander.“
„Einverstanden.“ So zogen sie miteinander weiter. Und wo ein Berg im Wege war, schob ihn Rückeberg beiseite; wo ein Wald war, schaffte Ziehbaum Platz; wo ein Fluss war, hielt Zwirbelbart das Wasser an.
Sie gingen und gingen und kamen in einen großen Wald. Wie sie sich umschauten, sahen sie eine Hütte stehen. Sie traten ein, aber niemand war in der Hütte. „Hier wollen wir übernachten“, sprach Kullerkorn. Also taten sie’s, und am nächsten Morgen sagte Kullerkorn: „Du, Rückeberg, bleibst daheim und kochst das Essen, wir drei aber ziehen auf die Jagd!“

Die drei zogen auf die Jagd, und Rückeberg sott und briet, was er konnte. Als er fertig war, ruhte er sich aus. Auf einmal pochte es an die Tür. „Mach auf!“ rief jemand.
„Wer du auch bist, öffne nur selbst!“ sagte Rückeberg.
Die Tür ging auf, und wieder rief es: „Hilf mir über die Schwelle!“
„Wer du auch bist, steig nur selbst über die Schwelle.“ Darauf kam ein winziges Männlein herein, sein Bart zottelte ellenlang hinter ihm her. Es packte Rückeberg beim Schopf, hängte ihn an einen Nagel an der Wand, verspeiste alles Gesottene und Gebratene und trank reichlich dazu. Dann schnitt es dem armen Rückeberg einen Streifen Haut aus dem Rücken, und schon war es verschwunden.
Rückeberg drehte und wendete sich hin und her, mit Mühe und Not befreite er sich aus seiner misslichen Lage und fing noch einmal an zu kochen. Als die anderen kamen, war er kaum fertig.
„Weshalb ist das Essen noch nicht gar?“ fragten sie.
„Ich bin ein bisschen eingeschlafen“, gab er zur Antwort. Sie aßen und legten sich schlafen. Am nächsten Tage sagte Kullerkorn: „Heute bleibst du hier, Ziehbaum; wir andern aber gehen auf die Jagd.“
Sie zogen los, und Ziehbaum sott und briet, was er konnte. Als er fertig war, ruhte er sich aus. Auf einmal pochte es an die Tür.
„Mach auf!“
„Wer du auch bist, öffne nur selbst!“ rief Ziehbaum.
„Hilf mir über die Schwelle!“
„Wer du auch bist, steig nur selbst über die Schwelle!“ Darauf kam ein winziges Männlein herein, und sein Bart zottelte ellenlang hinter ihm her. Es packte Ziehbaum beim Schopf, hängte ihn an einen Nagel an der Wand, verspeiste alles Gesottene und Gebratene und trank reichlich dazu. Dann schnitt es dem armen Ziehbaum einen Streifen Haut aus dem Rücken, und schon war es verschwunden. Ziehbaum zappelte und strampelte, mit Ach und Krach befreite er sich aus seiner misslichen Lage und kochte schnell noch einmal neues Essen. Da kamen auch schon die anderen.
„Weshalb ist das Essen noch nicht gar?“ fragten sie.
„Ich bin ein bisschen eingeschlafen“, sagte er. Rückeberg aber schwieg, denn er ahnte, was sich zugetragen hatte.
Am dritten Tag blieb Zwirbelbart zu Hause, und ihm erging es nicht besser.
Da sprach Kullerkorn: „Ihr seid mir gar zu träge beim Kochen! Morgen geht ihr auf die Jagd, und ich werde zu Hause bleiben!“
Und so machten sie es auch. Die drei gingen auf die Jagd, und Kullerkorn blieb daheim.
Er sott und briet, was er konnte, und ruhte sich dann aus. Bald hörte er, wie es an die Tür pochte.
„Mach auf!“ rief jemand.
„Warte, ich mach dir auf“, antwortete Kullerkorn. Er öffnete und sah ein winziges Männlein stehen, sein Bart aber zottelte ellenlang hinter ihm her.
„Hilf mir über die Schwelle!“ Kullerkorn nahm ihn bei der Hand und half ihm herein. Das Männlein aber sprang gleich auf ihn zu.
„Was willst du denn?“ fragte Kullerkorn erstaunt.
„Das wirst du schon sehen“, rief das Männlein und griff nach seinem Schopf; aber als er ihn fassen wollte, rief Kullerkorn: „Was bist du nur für einer!“ Und schon hatte er ihn am Bart gepackt. Dann nahm er das Beil, schleppte das Männlein zu einer Eiche, spaltete den Stamm und klemmte des Alten Bart in den Ritz.
„Weil du es auf meinen Schopf abgesehen hast, musst du hier fein sitzenbleiben, bis ich wiederkomme.“
Als er in die Hütte zurückkehrte, waren die anderen drei schon da.
„Nun, wie steht’s mit dem Essen?“ fragten sie.
„Es ist schon lange fertig!“ Sie aßen mit gutem Appetit, dann sagte Kullerkorn: „Kommt mit, und ich werde euch etwas Erstaunliches zeigen.“
Doch als sie hinkamen, war das Männlein verschwunden mitsamt der Eiche. Da erzählte Kullerkorn, was sich zugetragen hatte, und auch die anderen verrieten nun, wie es ihnen ergangen war.
„Ha“, rief Kullerkorn, „wenn das so ein Bürschchen ist, müssen wir es uns suchen!“
Der Alte aber hatte mit seinem Eichenbaum eine Spur hinterlassen, und dieser Spur folgten sie nun. Da kamen sie an eine Grube, die war so tief, dass man nicht auf den Grund sehen konnte.
„Steig hinab, Rückeberg!“ sagte Kullerkorn.
„Warum nicht gar!“
„Dann du, Ziehbaum!“
Aber Ziehbaum weigerte sich und auch Zwirbelbart.
„Dann will ich selbst hinabsteigen“, sprach Kullerkorn. „Helft mir einen Strick drehen.“
Das taten sie. Kullerkorn wickelte sich das eine Ende um die Hand, und sie ließen ihn hinunter. Endlich kam er auf dem Grund an.
Wie staunte er, als er vor sich ein großes Schloss erblickte. Er ging hinein, drinnen aber glänzte alles von Gold und Edelsteinen. Er schritt durch die Gemächer, und plötzlich kam ihm ein Mädchen entgegen, das war so schön, wie man es weder beschreiben noch erzählen kann.
„Oh“, rief sie, „lieber Freund, warum bist du hierhergekommen?“
„Ich suche ein kleines Männlein mit einem ellenlangen Bart“, antwortete Kullerkorn.
„Ach“, sagte sie, „das sitzt da und zerrt seinen Bart aus einer Eiche. Geh nicht zu ihm, es schlägt dich tot. Schon viele Menschen hat es totgeschlagen.“
„Es wird mich nicht gleich umbringen“, sagte er, „ich bin es ja, der ihm den Bart eingeklemmt hat. Doch wie kommt es, dass du hier bist?“
„Ich bin eine Königstochter, und der alte Gnom hat mich geraubt. Nun hält er mich hier gefangen.“
„So werde ich dich befreien. Führ mich zu ihm!“ Wie freute sich da die Königstochter! Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in ein Zimmer. Und wirklich! Da saß das Männlein, den Bart aber hatte es schon aus der Eiche herausgezogen. Als es Kullerkorn erblickte, schrie es:
„Weshalb bist du hergekommen? Willst du dich schlagen, oder willst du dich vertragen?“
„Ich will mich nicht vertragen“, antwortete Kullerkorn, „ich will mich schlagen!“
Lange kämpften sie miteinander, und die arme Königstochter sah sich schon verloren. Aber Kullerkorn erschlug den Alten mit seinem Schwert. Dann sammelte er mit der Königstochter alles Gold und alle Edelsteine in drei große Säcke und ging mit ihr zu der Stelle, wo er herabgekommen war. Hier stellte er sich hin und rief: „He, seid ihr noch da?“
„Ja-a!“ antwortete es von fern. Da schlang Kullerkorn den Strick um einen Sack und ließ diesen hinaufziehen. „Der ist euer!“ rief er. Als der Strick wieder herunterkam, band er den zweiten Sack fest. „Auch der ist-euer!“ Und auch den dritten gab er ihnen. Nun schlang er den Strick um die Königstochter.
„Aber das ist mein!“ schrie er hinauf.
Sie zogen die Königstochter nach oben, und nun war nur noch Kullerkorn unten.
Da sprachen sie zueinander: „Warum sollen wir ihn hochziehen? Lieber wollen wir die Königstochter für uns behalten! Wir ziehen ihn ein Stück hoch, lassen ihn dann los, er stürzt hinunter und ist tot.“
Kullerkorn aber erriet, was sie vorhatten, band einen großen Stein an das Seil und rief: „Zieht mich hinauf!“
Sie zogen ihn ein Stück herauf, ließen dann den Strick los, und der Stein – krach! – schlug unten auf.
„Also gut“, sprach Kullerkorn und machte sich auf, einen Weg zu suchen, der nach oben führte.
Er ging und ging, und plötzlich zogen finstere Wolken herauf, mit Regen und Hagel, und er verbarg sich unter einer Eiche. Da hörte er oben im Nest eine Adlerbrut schreien. Die jungen Adler sterben ja bei diesem Unwetter, dachte Kullerkorn, stieg zum Nest hinauf und bedeckte die Vögel mit seinem Kittel. Kaum war der Regen vorüber, kam ein großer Vogel geflogen, das war der Adlervater. Als er sah, dass seine Kinder noch lebten, fragte er: „Wer hat euch zugedeckt?“
„Wenn du uns versprichst, ihn nicht zu fressen, sagen wir es dir.“
„Nein, ich fresse ihn nicht.“
„Unter dem Baum sitzt ein Mensch, der hat uns zugedeckt.“ Der Adler flog zu Kullerkorn und sprach: „Was immer du dir auch wünschst, ich will es dir geben. Zum ersten Mal sind meine Kinder am Leben geblieben. Sonst, wenn ich fortflog und es regnete und hagelte, kamen sie alle im Nest um.“
„So trage mich wieder nach oben“, antwortete Kullerkorn.
„Das ist eine schwere Aufgabe. Aber was ich versprochen habe, muss ich auch halten. Wir werden sechs Tonnen Fleisch und sechs Tonnen Wasser mitnehmen müssen. Wenn wir fliegen und ich wende den Kopf nach rechts, so gib mir einen Bissen zu fressen, wende ich den Kopf nach links, so gib mir einen Schluck zu trinken. Tust du es nicht, halte ich den Flug nicht aus.“
Als alles bereit war, setzte sich Kullerkorn auf des Adlers Rücken, und sie flogen los. Lange, lange flogen sie. Wandte der Adler den Kopf nach rechts, schob ihm Kullerkorn einen Bissen Fleisch in den Schnabel; wandte er ihn nach links, gab er ihm einen Schluck Wasser.
Als sie schon fast am Ziele waren, wandte der Adler den Kopf nach rechts, aber es war kein Bissen Fleisch mehr da. Flugs schnitt Kullerkorn sich aus einem Bein ein Stück Fleisch heraus und steckte es dem Adler in den Schlund. Als sie auf der Erde anlangten, sagte der Adler: „Der letzte Bissen Fleisch war ganz besonders schmackhaft. Wo hattest du den her?“
Kullerkorn wies auf sein Bein.
Da spie der Adler den Bissen wieder aus, flog fort und holte vom
Wasser des Lebens. Dann legten sie das Stück Fleisch auf Kullerkorns Bein, begossen es mit dem Wasser, und es wuchs wieder an.
Der Adler flog heim, und Kullerkorn ging seine Gefährten suchen. Die waren inzwischen schon bei dem Vater der schönen Königstochter angelangt, lebten dort und stritten miteinander, wer die Prinzessin heiraten solle. Sie konnten sich aber nicht einigen, denn jeder wollte sie haben.
Auf einmal erschien Kullerkorn. Wie erschraken da die ungetreuen Gefährten! Denn sie dachten, nun würde er sie gewiss töten, doch Kullerkorn sprach: „Meine leiblichen Brüder haben mich verraten, wie sollte ich da mit euch rechten.“ Und er verzieh ihnen.
Dann heiratete er die Königstochter und lebte mit ihr herrlich und in Freuden.

Ukrainisches Märchen