Kyoto war früher die Hauptstadt von Japan. Das ist Kyoto jetzt nicht mehr, aber es ist noch immer eine große und sehr schöne Stadt. Hunderte von Tempeln sind da, meist Holzbauten, mit Schnitzereien reich verziert, umgeben von grünen Hainen. Manche Tempel sind allerdings schon verfallen, aber die Haine sind noch schön mit ihren Kiefern und Kirschbäumen, Ahornsträuchern und Bambusgebüschen und mit ihren vielen Teichen, in denen Iris und Lotosblumen wachsen und Millionen von Fröschen ein vergnügtes Dasein führen. In den warmen Sommernächten machen die Frösche ein herrliches Konzert, das in der ganzen Stadt zu hören ist. Die Japaner freuen sich über den Mond und den Gesang der Frösche und singen auch selber vor sich hin, ebenso schön wie die Frösche. Nun hatte sich aber einmal unter den Fröschen der alten Kaiserstadt, wer weiß auf welche Weise, ein Gerücht verbreitet, dass in der Nähe noch eine andere große Stadt läge, Osaka genannt. In dieser Stadt gäbe es auch Tempel und Lotosteiche, so wurde erzählt, allerdings nicht so viele wie in Kyoto. Aber dafür wäre die ganze Stadt von langen Kanälen durchzogen, auf denen längliche, hölzerne Häuser, die die Menschen Schiffe nannten, hin- und herfuhren. Und am Ende der Stadt befände sich ein großer Teich, sehr viel größer als alle Teiche von Kyoto zusammen. Man könnte sein Ende überhaupt nicht sehen. Auf diesem Gewässer kämen große Schiffe von weit her und brächten Kisten und Kasten, Ballen und Pakete, und es gäbe ungeheuer viel Neues zu sehen. In den Kanälen von Osaka aber wohnten auch eine Menge Frösche, und die machten ebenfalls sehr schöne Musik in den Sommernächten.
Dieses Gerücht wurde das Tagesgespräch der Frösche in Kyoto, die sich sehr wunderten, dass in ihrer Nähe so viele Stammesbrüder wohnen sollten, die sie gar nicht kannten und nie gesehen hatten. Mit der Zeit wurde der Wunsch immer dringender, mit diesen Fröschen in Osaka freundschaftliche Verbindungen anzuknüpfen. Also wurde eine große Versammlung abgehalten und beschlossen, einen alten Großfrosch, der in seiner Jugend viel gereist sein sollte und im Rufe großer Erfahrungen stand, als Gesandten abzuschicken, damit er den Ort und die Bewohner erst einmal kennenlernte. Es war ja gar nicht einmal sehr weit, man brauchte bloß über einen nicht allzu hohen Berg zu wandern, der noch heute zwischen beiden Ortschaften liegt. Gesagt, getan. Eines Tages machte sich der ehrwürdige Großfrosch von Kyoto auf die Beine, und hupp-hupp! begann er den Berg zu erklettern. Oft blickte er nach der Heimat zurück, aber tapfer wanderte er weiter, bis er auf die Höhe kam, von der aus man Osaka sehen konnte.
Als er oben angelangt war, kam ihm ein anderer würdevoller Frosch entgegengehüpft! Eine gute Gelegenheit, sich nach dem Weg und der Gegend zu erkundigen!
Der fremde Frosch schien ebenso zu denken, und wie es in Japan Mode ist, begrüßten sich die beiden mit vielen Verbeugungen und liebenswürdigen Redensarten: „So früh schon auf?“ – „Schönes Wetter heute!“ – „Was machen die lieben Kinderchen?“ – „Wie geht es den geehrten Eltern?“ – „Lebt der Großvater noch?“ – „Noch sehr, sehr rüstig, ausgezeichnet.“ – „Wie geht es sonst?“ – Endlich kam man auf die Hauptsache: Woher und wohin?
Da berichtete der Kyoto-Frosch, woher er komme und welches der Zweck seiner mühsamen Reise sei. Und merkwürdig! Der andere Frosch kam geradewegs aus Osaka und wollte Erkundigungen einziehen, wie es den Fröschen in Kyoto ginge. Auf dem halben Weg hatten sich die beiden nun getroffen. Da freuten sie sich sehr.
„Ein herrlicher Zufall!“ sagte der Kyoto-Frosch, und der Osaka-Frosch stimmte von Herzen zu. „Jetzt sind wir gerade auf dem Gipfel des Hügels. Da hat der fremde Wanderer schon einen schönen Fernblick auf Kyoto!“
„Sehr gut!“ erwiderte der Osaka-Frosch. „Und in der Richtung, aus der ich gekommen bin, kann man Osaka liegen sehen.“ Also machten die beiden noch eine Menge höflicher Verbeugungen gegeneinander und hüpften aneinander vorbei, um sich ihr Reiseziel anzusehen. Beide erhoben sich, so hoch sie konnten, auf ihren Vorderbeinen und steckten den Kopf möglichst hoch in die Luft, voll Erwartung der großen Wunderdinge, von denen sie gehört hatten. Aber die Natur hat es bei den Fröschen so eingerichtet, dass die Augen nicht vorn im Kopf sitzen wie bei den Menschen, sondern ganz oben. Und als sie nun die Köpfe hoch in die Luft reckten, richteten sich ihre Augen natürlich nach hinten. So blickte der Kyoto-Frosch, der Osaka sehen wollte, gar nicht nach Osaka, sondern sah auf Kyoto zurück, während der Osaka-Frosch umgekehrt Osaka zu sehen bekam.
Da sagte der Kyoto-Frosch: „Es ist alles Unsinn, was sie uns erzählt haben! Dieses Osaka sieht genauso aus wie Kyoto, eben solche Tempel und Lotosteiche, und auch alles andere ist genauso. Es lohnt gar nicht, den weiten Weg bis dahin zu machen, es gibt dort nichts Neues, und zu Hause ist es am besten.“ Dasselbe sagte der Osaka-Frosch: „Dieses Kyoto ist genauso wie Osaka. Schenken wir uns die Mühe und kehren wir getrost um!“
Beide machten also kehrt, tauschten ihre Eindrücke aus und waren sich einig. Sie schwatzten noch ein Weilchen, wie es unter Freunden üblich ist, die sich getroffen haben, trugen sich gegenseitig Grüße auf, wünschten sich glückliche Reise, hofften, sich bei Gelegenheit wiederzusehen, und sagten, es wäre ihnen eine große Freude gewesen, einander kennenzulernen. Dann hüpfte der Osaka-Frosch vergnügt zurück in seine Heimat und der Kyoto-Frosch auch. Und beide erzählten viel von der Anstrengung der weiten Reise, und dass es sich eigentlich nicht gelohnt hätte.
Märchen aus Japan