Wie die Beuteltiere erstanden

Beuteltiere, die gibt es fast nur in Australien. Dort leben Kängurus, Beutelratten und Beutelmäuse, Beutelwölfe und Beuteldachse, Koalas und Beutelfüchse und eine Unzahl anderer Tiere, die alle ihre Jungen lange Zeit nach der Geburt in einem Beutel am Bauch tragen, bis die Jungen so groß geworden sind, dass sie sich selber Nahrung suchen und sich frei bewegen können.
Warum aber sind beinahe alle Säugetiere Australiens Beuteltiere? Auf diese Frage gibt ein Märchen Antwort.

Vor langer Zeit gab es noch keine Beuteltiere. Wenn ein Tierjunges zur Welt kam, dann suchte es sich sofort seine Nahrung, und nach kurzer Zeit konnte es auch hüpfen, laufen oder klettern, je nachdem, was es für ein Tier werden wollte, wenn es einmal erwachsen war: In einer Höhle auf einem Berg wohnte ein Dingo. Er war alt geworden und konnte nicht mehr gut auf die Jagd gehen. Seine Zähne waren auch nicht mehr die besten, und es fiel ihm immer schwerer, sich gegen andere Tiere zu behaupten oder ihnen nachzujagen. Wenn sich aber ein junges Tier von der Mutter entfernte, dann lauerte der alte Dingo irgendwo hinter einem Gestrüpp, und schwups! hatte er es erfasst und trabte damit in seine Höhle. Immer wieder herrschten Trauer und Wehklagen in den Tierfamilien, wenn ein Junges geraubt worden war. Man schärfte den Kleinen ein, stets artig bei der Mutter zu bleiben, aber ihr wisst ja: Kleine Tiere sind, ebenso wie kleine Menschen, neugierig und wissensdurstig und denken nicht immer an die Gefahren, vor denen die Erwachsenen sie warnen.
Als der Dingo wieder einmal mehrere Tierjunge geraubt hatte, ein kleines Känguru, zwei Mäuse und mehrere putzige Koalas, da berief der Wombat eine Versammlung aller Tiere des Waldes ein. Es wurde lange beraten, was man wohl tun könnte, um dem Treiben des Dingos Einhalt zu gebieten. Die Maus piepste, man möge den Dingo doch fangen und einsperren, aber der Beutelfuchs wandte ein, dass die Maus zwar gute Ideen hätte, dass sich aber kein Tier finden würde, das den Mut aufbrächte, den großen, noch immer gefährlichen Dingo einzufangen. Und als der Wombat die Frage stellte, wer wohl die heikle Aufgabe übernehmen möchte, da war es mäuschenstill in der Runde. Es gab viele Ankläger, all die Mütter der geraubten Jungen, und es gab keine Verteidiger. Es hätte auch viele Richter gegeben, die den Dingo verurteilt hätten, aber eines fehlte: Mut.
Nach vielen Stunden voll erregter Debatten räusperte sich die weise Eule und sprach: „Eigentlich geht mich die ganze Sache nichts an, denn meine Jungen sind vor dem Dingo sicher. Ich lebe ja auf einem Baum, und der Dingo kann nicht klettern. Aber wie ich sehe, seid ihr ratlos, und ich will euch gern einen Rat geben.“ Alle Tiere horchten auf, denn die Eule wusste gewöhnlich, was sie sagte. Sie war schon sehr alt und weit herumgekommen.
„Uhu“, so begann sie, denn das klang feierlich, „ihr dürft eure Jungen eben nicht frei herumlaufen lassen.“
Die Tiere schrien durcheinander:
„Man kann die Jungen doch nicht anbinden, man muss sie doch Nahrung suchen lassen. Wir haben ihnen eingeschärft, nicht von unserer Seite zu gehen, aber man weiß ja, wie Kinder sind.“
Unbeirrt fuhr die Eule fort: „Ihr habt mich nicht ausreden lassen. Ihr müsst die Jungen eben so mit euch herumtragen, dass der Dingo es nicht wagt, sie zu rauben.“
Wieder schrien die Tiere: „Wenn wir unsere Kinder tragen, dann können wir ja nicht ungehindert Nahrung suchen, und wovon sollen die Kleinen dann leben? Wir müssen doch unsere Beine und Pfoten frei haben und können deshalb nicht die Kinder mit uns herumtragen.“
Nachdem sich die Eule wieder Gehör verschafft hatte, sprach sie: „Ihr müsst euch eben Beutel anfertigen lassen, und in diesen sollen eure Kleinen so lange bleiben und sich von Milch ernähren, bis sie groß genug sind, sich gegen den Dingo selber zur Wehr zu setzen oder vor ihm davonzulaufen.“
Woher solche Beutel nehmen? Aber auch dafür wusste die Eule Rat. Über ihr im Baume wohnte eine Familie von Webervögeln, die geschickt im Anfertigen von Beuteln war, und die Webervögel erklärten sich auch bereit, jeder Tiermutter einen solchen Beutel anzufertigen.
Noch ehe die Nacht herum war, hatten die Kängurus, die Beutelmäuse und Beutelratten, die Beutelwölfe und Beuteldachse, die Koalas, die Beutelfüchse und viele andere Tiere jedes einen Beutel, und als sie alle fertig waren, packten die Mütter ihre Kleinen und steckten sie sich in den Beutel. So entstanden die Beuteltiere.
Als der Dingo am Morgen durch den Wald schlich und sich ein Junges suchen wollte, da gab es nur erwachsene Tiere zu sehen, gegen die er nichts ausrichten konnte. Aber er hörte die Stimmchen der Jungen, die ihre Köpfchen neugierig aus dem Beutel steckten und dem Dingo eine lange Nase drehten. Wenn er aber näher kam, dann sah er nichts mehr, denn die Jungen versteckten sich im Beutel, wo es warm und wohlig und sicher war.
Und wenn ein Dingo an einer Eule vorübergeht, dann drückt sie noch heute eines ihrer großen gelben Augen zu, als wollte sie zwinkern und sagen: „Dich haben wir aber reingelegt!“

Märchen aus Australien