Das Zicklein mit der Glocke

Das Zicklein mit der Glocke

Es war Frühling.
Auf einer Weide graste eine Ziege mit ihrem Zicklein.
Die Ziege suchte und wies dem Kleinen fürsorglich das zarte Hammelgras, das seine ersten Blüten öffnete und weiß wie Schnee auf der noch gelbbraunen Steppe leuchtete.
Als sich kein Hälmchen mehr fand, hängte die Ziege dem Zicklein eine kleine kupferne Glocke um den Hals. „Ich gehe jetzt und sehe mich nach einem anderen Weideplatz um. Warte hier auf mich. Wenn jemand dir etwas zuleide tun will, läute! Dann komme ich und helfe dir.“
„Ja“, sagte das Zicklein; und die Ziege lief.
Sie hatte kaum ein paar Sprünge gewagt, als sie die Schelle klingen hörte. Wie sie erschrak, kehrtmachte und rannte!
„Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“ fragte sie ganz außer Atem.
„Eine Fliege hat sich auf mein Bein gesetzt. Ich bitte dich, jage sie weg“, antwortete das Zicklein.
„Und ich fürchtete schon, die Wölfe kämen! Dass du mir nicht noch einmal läutest, wenn du nicht in Gefahr bist!“ schalt die Ziege und machte sich wieder auf den Weg.
Sie war jedoch kaum in der ersten Schlucht verschwunden, als sie die Schelle aufs Neue vernahm.
Wieder erschrak sie und rannte.
„Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“ Weiterlesen

Der Iltis

Der Iltis

Es waren einmal ein Großvater und eine Großmutter, denen stahl ein Iltis die Kücken. Eins nach dem andern schleppte er sie weg, und zu guter Letzt holte er auch noch die Glucke. Da sagte der Mann: „Ich will ausziehen und den Iltis verprügeln!“ Sprach’s und machte sich auf den Weg.
Wie er so ging, begegnete er einem Kuhfladen.
„Wohin des Weges, Großvater?“
„Den Iltis verprügeln.“
„Ich geh mit.“
„Komm!“
Zu zweit wanderten sie weiter. Da begegneten sie einem Baststreifen.
„Wohin des Weges, Großvater?“
„Den Iltis verprügeln.“
„Ich geh mit.“
„Komm!“
Zu dritt wanderten sie weiter. Da begegneten sie einem Stöckchen.
„Wohin des Weges, Großvater?“
„Den Iltis verprügeln.“
„Ich geh mit.“
„Komm!“ Weiterlesen

Frösche auf Wanderschaft

Frösche auf Wanderschaft

Kyoto war früher die Hauptstadt von Japan. Das ist Kyoto jetzt nicht mehr, aber es ist noch immer eine große und sehr schöne Stadt. Hunderte von Tempeln sind da, meist Holzbauten, mit Schnitzereien reich verziert, umgeben von grünen Hainen. Manche Tempel sind allerdings schon verfallen, aber die Haine sind noch schön mit ihren Kiefern und Kirschbäumen, Ahornsträuchern und Bambusgebüschen und mit ihren vielen Teichen, in denen Iris und Lotosblumen wachsen und Millionen von Fröschen ein vergnügtes Dasein führen. In den warmen Sommernächten machen die Frösche ein herrliches Konzert, das in der ganzen Stadt zu hören ist. Die Japaner freuen sich über den Mond und den Gesang der Frösche und singen auch selber vor sich hin, ebenso schön wie die Frösche. Nun hatte sich aber einmal unter den Fröschen der alten Kaiserstadt, wer weiß auf welche Weise, ein Gerücht verbreitet, dass in der Nähe noch eine andere große Stadt läge, Osaka genannt. In dieser Stadt gäbe es auch Tempel und Lotosteiche, so wurde erzählt, allerdings nicht so viele wie in Kyoto. Aber dafür wäre die ganze Stadt von langen Kanälen durchzogen, auf denen längliche, hölzerne Häuser, die die Menschen Schiffe nannten, hin- und herfuhren. Und am Ende der Stadt befände sich ein großer Teich, sehr viel größer als alle Teiche von Kyoto zusammen. Man könnte sein Ende überhaupt nicht sehen. Auf diesem Gewässer kämen große Schiffe von weit her und brächten Kisten und Kasten, Ballen und Pakete, und es gäbe ungeheuer viel Neues zu sehen. In den Kanälen von Osaka aber wohnten auch eine Menge Frösche, und die machten ebenfalls sehr schöne Musik in den Sommernächten.
Dieses Gerücht wurde das Tagesgespräch der Frösche in Kyoto, die sich sehr wunderten, dass in ihrer Nähe so viele Stammesbrüder wohnen sollten, die sie gar nicht kannten und nie gesehen hatten. Mit der Zeit wurde der Wunsch immer dringender, mit diesen Fröschen in Osaka freundschaftliche Verbindungen anzuknüpfen. Also wurde eine große Versammlung abgehalten und beschlossen, einen alten Großfrosch, der in seiner Jugend viel gereist sein sollte und im Rufe großer Erfahrungen stand, als Gesandten abzuschicken, damit er den Ort und die Bewohner erst einmal kennenlernte. Es war ja gar nicht einmal sehr weit, man brauchte bloß über einen nicht allzu hohen Berg zu wandern, der noch heute zwischen beiden Ortschaften liegt. Gesagt, getan. Eines Tages machte sich der ehrwürdige Großfrosch von Kyoto auf die Beine, und hupp-hupp! begann er den Berg zu erklettern. Oft blickte er nach der Heimat zurück, aber tapfer wanderte er weiter, bis er auf die Höhe kam, von der aus man Osaka sehen konnte. Weiterlesen

Die bunt Gescheckten

Ein junger Bursche namens Markelja geriet in türkische Gefangenschaft und verbrachte dort viele Jahre. Da er aber in allen Sätteln gerecht war, dazu auch witzig und sangesfreudig, hatte ihn jedermann gern. Auch ein türkischer Wesir gewann ihn lieb und beschloss, ihn zum Islam zu bekehren und zu adoptieren. Mit Lügen und Schmeicheleien versuchte er den Burschen so weit zu bringen, dass er den mohammedanischen Glauben annahm, doch dieser ließ sich nicht fangen, rutschte ihm wie ein Aal aus den Fingern. Das ging eine Weile so, aber dann verlor der Wesir die Geduld. Er befahl, Markelja in die Moschee zu bringen und ihn gewaltsam mohammedanisch zu machen.
„Höre, du Pestbeule!“ sagte er zu Markelja. „In drei Tagen wirst du gewaltsam zum Islam bekehrt. Und fügst du dich nicht darein, dann schlage ich dir den Kopf ab.“ Weiterlesen

Robert Frost – Die verpasste Straße (The Road Not Taken)

Zwei Straßen gingen ab im gelben Wald,
Und leider konnte ich nicht beide reisen,
Da ich nur einer war; ich stand noch lang
Und sah noch nach, so weit es ging, der einen
Bis sie im Unterholz verschwand;

Und nahm die andre, grad so schön gelegen,
Die vielleicht einen bessern Weg versprach,
Denn grasbewachsen kam sie mir entgegen;
Jedoch, so weit es den Verkehr betraf,
So schienen beide gleichsam ausgetreten,

An jenem Morgen lagen beide da
Mit frischen Blättern, noch nicht schwarz getreten.
Hob mir die eine auf für’n andern Tag!
Doch wusste ich, wie’s meist so geht mit Wegen,
Ob ich je wiederkäm, war zweifelhaft.

Es könnte sein, dass ich dies seufzend sag,
Wenn Jahre und Jahrzehnte fortgeschritten:
Zwei Straßen gingen ab im Wald, und da –
Wählt‘ ich jene, die nicht oft beschritten,
Und das hat allen Unterschied gemacht. Weiterlesen

Hundert Wölfe

Hundert Wölfe

Erzählte doch da ein junger Bursche: „Als ich gestern Abend durch den Wald ging, hab ich eine Heidenangst ausgestanden! Bin grad noch mit heiler Haut davongekommen.“
„Und warum?“ fragten seine Freunde.
„Hundert Wölfe haben mich verfolgt.“
„Ei der Daus!“
„Ihr glaubt’s wohl nicht? Na, wenn’s nicht hundert gewesen sind, aber fünfzig waren es ganz gewiss.“
„Im ganzen Wald gibt’s doch nicht so viele.“
„Ihr zweifelt wohl? Mindestens ein Dutzend hat mich verfolgt, ich sag’s doch!“
„Schwindle nicht!“
„Das ist nicht geschwindelt. Ein Wolf war mir auf den Fersen, ich sag’s doch!“
„Und wo hast du ihn gesehen?“
„Bei Gott, ich hörte deutlich ein Rascheln im Gebüsch.“

Märchen aus der Ukraine